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Aus dem Tagebuch von Robinson Chruschtschow, Botschafter der Russischen Föderation in der Deutschen Basisdemokratischen Republik (DBR)

 (Satire)

[Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Blätter entstammen der sogenannten gelben Mappe aus dem Nachlass des 1998 wegen Hochverrats hingerichteten Berliner Historikers Christian Sachse. Wie sie in seinen Besitz gelangt sind, ist unklar. Sie werden hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt.]

 

Es drängt mich, heute am Tage meiner Ausreise aus der DBR die Ereignisse der letzten Jahre noch einmal zusammenzufassen. Möge diesem armseligen Land eine bessere Zukunft beschieden sein.

Am 1. März 1990 wurde ich, Robinson Robinowitsch Chruschtschow, zum Botschafter der UdSSR in Berlin, Hauptstadt der damaligen DDR, ernannt. Die revolutionären Zeiten schienen ihrem Ende entgegen zu gehen. Für den 18. März waren freie Wahlen ausgeschrieben worden. Die Ergebnisse sind bekannt: Das Neue Forum (NF) erreichte mit 53,9 Prozent die Mehrheit der Stimmen und koalierte mit der Vereinigten Linken (14,4 Prozent). Die SPD ging mit 23 Prozent in die Opposition, die konservativen, grünen und liberalen Parteien teilten sich den kläglichen Rest der Stimmen. Die Bevölkerung hatte sich mit überwältigender Mehrheit für einen anti-kapitalistischen Weg entschieden, ein eigenständiges Land mit der Perspektive „des dritten Weges“. Ministerpräsident wurde damals Klaus Böllter (NF), ein bis dahin unbekannter Bürgerrechtler aus Kummerstorf in Brandenburg, der sich gemäß Beschluss der Volkskammer als „Sprecher des Volkes“ bezeichnete. Sprecher der Außenvertretung wurde der Biologe Dr. Martin Grossmann (VL). Alle Mitglieder der Regierung, sprich des Koordinierenden Rates, wurden in Zukunft vom Volk direkt gewählt und unterlagen nach Beschluss der Volkskammer dem „mittelfristigen Rotationssystem“, d.h. sie mussten sich alle 12 Monate einer Wiederwahl stellen.

Die neue Regierung ging mit unvorstellbarem Elan an die Arbeit. Zunächst einmal wurden die Spitzen der Treuhandanstalt neu besetzt und ihre Ziele neu definiert. Ihre Aufgabe bestand nun darin, die Fabriken und landwirtschaftlichen Betriebe in das Eigentum der jeweiligen Belegschaften zu überführen. Verwaltet wurden sie von Räten der Arbeiter und Angestellten, die aus ihrer Mitte einen verantwortlichen Koordinator für die Produktion bestimmten. Diese Neuerung wurde am 1. Mai 1990 mit einem großen Volksfest in Kraft gesetzt. Ich bin in diesen Tagen viel durch das Land gefahren und kann es bezeugen: Die Stimmung unter der Bevölkerung war geradezu euphorisch. Die Menschen tanzten in den Betrieben, manches Werktor war bereits frisch gestrichen. Alle Plätze und Häuser waren festlich geschmückt. Überall hingen die schwarz-rot-goldenen Fahnen mit dem neuen Emblem der Deutschen Basisdemokratischen Republik „Schwerter zu Pflugscharen“.

Am 7. Mai erließ der Koordinierende Rat des Volkes eine Reihe von Dekreten, die das Leben im Lande von Grund auf verändern sollten: Die Armee wurde mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Innerhalb eines Jahres sollte das Personal umgeschult und für gesellschaftlich wichtige Aufgaben eingesetzt werden. Die Verteidigung sollte nach Schweizer Vorbild eine Volksmiliz übernehmen. Geheimdienste sollten der Vergangenheit angehören. Der Schutz der Demokratie wurde in die Hände der Volkspolizei und mündiger Bürger gelegt.

Wer beschreibt den Jubel, als sich die Kasernentore öffneten und die Bürger Lastkraftwagen, PKW und weitere Technik der Nationalen Volksarmee in Empfang nahmen, die für die Volkswirtschaft so dringend benötigt wurden? Allein im Kreis Zerbst erhielten die Krankenhäuser neun zusätzliche Krankenwagen nebst Fahrer und Sanitäter. Schüler hatten sie mit Friedenssymbolen bemalt. Ich habe es selbst gesehen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Neuordnung der DBR in Bundesländer, die von der Volkskammer einstimmig – bei Enthaltung des Abgeordneten der PDS – beschlossen wurde.

Wenige Tage danach besuchte mich inoffiziell der Sprecher der Außenvertretung der DBR, Dr. Martin Grossmann und machte mir ein überraschendes Angebot. Die Deutsche Basisdemokratische Republik würde bei den am 22. Juni in Berlin anstehenden Zwei-plus-Vier-Gesprächen eine grundsätzlich neue Haltung einnehmen. Anzeichen dafür hatte es bereits am 5. Mai in Bonn gegeben. Grossmann eröffnete mir, die DBR werde die Gespräche bis zur Durchführung eines Volksentscheides aussetzen. Dieser werde aller Voraussicht nach zugunsten einer eigenständigen Basisdemokratischen Republik ausfallen. Danach strebe man einen Friedensvertrag beider deutscher Staaten mit den Siegermächten des 2. Weltkrieges an. Fernziel sei eine deutsch-deutsche Konföderation in einem politisch geeinten Europa einschließlich der Sowjetunion. Da angesichts solcher Pläne vermutlich jegliche Unterstützung seitens der Bundesrepublik eingestellt würde, hoffe man auf tatkräftige Hilfe aus der Sowjetunion. Frankreichs und Groß Britanniens Botschafter hätten bereits Unterstützung in gewissem Rahmen signalisiert. Ich versicherte Grossmann meiner vollen Sympathie für dieses Experiment, machte jedoch geltend, dass die Sowjetunion zu wirksamer wirtschaftlicher Hilfe derzeit kaum in der Lage sein werde. Darüber hinaus wies ich ihn darauf hin, dass die Polen, Tschechen und Slowaken, allen voran aber die Ungarn, sich in rasantem Tempo an Westeuropa annäherten. Unsere Pläne, eine Art „Kleine Entente“ als Gegengewicht zur Europäischen Union zu installieren, stoße in diesen Ländern auf wenig Begeisterung. Wir – die Sowjetunion – könnten den Prozess der Einigung im Rahmen von EU und NATO vielleicht noch ein wenig stören und hinauszögern, verhindern jedoch nicht. Und auch die Störmanöver hätten nur zum Ziel, eine möglichst vorteilhafte Ausgangsbasis für Verhandlungen mit dem Westen zu erreichen. Grossmann verließ mich sichtlich verstimmt. 

Ich berichtete nach Moskau, woraufhin Michail Gorbatschow öffentlich erklärte, die DDR (er nannte sie bei ihrem alten Namen) sei ein souveräner Staat und er werde ihre Entscheidung respektieren. Er fügte allerdings sibyllinisch hinzu: „Prozess poschol“ (der Prozess ist losgegangen). Dies wurde im Westen als Unterstützung der Einigung Europas gedeutet, was auch der Fall war.

Der für den 15. Juni angesetzte Volksentscheid erbrachte ein überwältigendes Votum für eine eigenständige Basisdemokratische Republik. Die Regierung der DBR erklärte daraufhin ihren Austritt aus dem Warschauer Pakt, kündigte die militärischen Beistandsverträge mit den Ostblockländern und erklärte sich für demilitarisiert und politisch neutral. Die 2+4-Verhandlungen wurden auf Eis gelegt.

Wenige Tage später traten Polen, die ČSSR und Ungarn ebenfalls aus dem Warschauer Vertrag aus, wobei sie gleichzeitig um ihre baldige Aufnahme in die NATO nachsuchten. Die SU zog ihre Truppen aus den osteuropäischen Ländern zurück, nicht jedoch aus der entmilitarisierten DBR. Unter der Hand, so wurde später im Westen behauptet, übernahm sie sogar ganze Struktureinheiten von der Nationalen Volksarmee (Funkaufklärung, Luftwaffe, Marine) einschließlich Personal. Die Polen, die sich von sowjetischen Truppen eingekreist sahen, verlangten nun von der NATO die Aufstellung wirksamer Abwehrsysteme auf ihrem Gebiet, was der Westen freilich ablehnte. Die Bundesrepublik Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich dafür ausgesprochen; Frankreich und England waren dagegen. So blieb es bei einer allgemeinen Absichtserklärung, die polnischen Interessen im Auge zu behalten.

Die entmilitarisierte DBR appellierte nun an die Sowjetunion, als Zeichen ihres Friedenswillens ihre Truppen abzuziehen. Dies lehnte die SU allerdings unter Hinweis auf das Potsdamer Abkommen ab. Sie garantiere mit ihrer militärischen Präsenz die Neutralität der DBR.

Im Herbst 1990 kam es dann in der DBR zu einer Versorgungskrise. Es ist viel gerätselt worden, worauf sie zurückzuführen war. Eines ist sicher. Am mangelnden Arbeitswillen der Bevölkerung hat es nicht gelegen. Nie wurde in diesem Land so emsig gearbeitet wie in jenen Tagen und Wochen. Die Krise begann damit, dass der Koordinierende Rat der assoziierten Braunkohlentagebaue – der im Übrigen im wesentlichen aus ehemaligen Werksdirektoren bestand – beschloss, einen Großteil seiner Produktion nach Tschechien zu verkaufen. Damit standen kurzfristig 30 Prozent der Kraftwerke in der DBR still. Nachdem die Koordinierenden Räte der Energie-Erzeugenden Industrie vergeblich die Regierung angerufen hatten, drohten sie mit einer Besetzung der Gruben im Namen des frierenden Volkes. Der Sprecher des Volkes Klaus Böllter, wandte sich nun mit einer beeindruckenden Rede an die Bevölkerung. Er erklärte, auf Machtmittel verzichten zu wollen und appellierte an die Solidarität der Arbeitenden. Es kam tatsächlich zu einem Kompromiss, allerdings erst im Dezember – kurz vor Weihnachten. Bis dahin harrte die Bevölkerung diszipliniert in Dunkelheit und Kälte aus.

Für die Geduld der Bevölkerung gab es einen Grund. Auf Anregung des Sprechers des Inneren, dessen Name mir entfallen ist, entstanden überall in der DBR „Gruppen mündiger Bürger“, die in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei allerorts für ein verfassungskonformes Verhalten sorgten. Im Westen und später auch in Polen ist oft behauptet worden, dass sich ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit hier ein neues Wirkungsfeld erobert hätten. Der Beweis dafür steht allerdings noch aus. Nach meinem Eindruck waren dies wirklich basisdemokratisch orientierte Bürger, die – bis auf die Koordinatoren – ihre Tätigkeit ehrenamtlich ausübten. Auch hielt sich die Volkspolizei mit Verhaftungen zurück. Im Vordergrund stand das überzeugende Argument.

Zur ersten schweren politischen Krise kam es dann im Frühsommer 1991. Die ostdeutschen Bundesländer waren wieder gebildet worden. Bereits während der Wahlen zu den Landesparlamenten war es zu erheblichen Spannungen innerhalb des Neuen Forum gekommen. Das Thüringer Neue Forum hatte sich zentrale Wahlkampfhilfe verbeten.

Auf der ersten Tagung des neuen Landtages kam es zum Eklat. Zum Sprecher Thüringens wurde der lutherische Pfarrer Edmund Brennert (NF) gewählt. In seiner Regierungserklärung verkündete er das Ziel der Thüringer Regierung, nach Artikel 23 a des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beizutreten. Eine Koalition mit CDU und SPD sicherte ihm dafür eine stabile Mehrheit. Im Eichsfeld entstand die Kampagne „Mir san Hesse“, was so freilich nicht stimmte.

Es mag ein Zufall sein, dass der Sprecher für Allgemeine Abrüstung zu dieser Zeit begann, verschiedene Projekte der Verteidigung in Angriff zu nehmen. Die überall entstehenden Gruppen der Sozialen Verteidigung (GSV) agierten weitgehend gewaltfrei. Ihre offizielle Aufgabe bestand darin, den Bürgern und Bürgerinnen beim Umtausch westlicher Währung (vor allem der D-Mark) in DBR-Mark behilflich zu sein. Denn noch immer waren in der DBR große Summen dieser zweiten Währung in Umlauf. Inzwischen waren zum Schutz der DBR-Wirtschaft zwar strenge Reglungen erlassen worden, die eine sofortige Abgabe an die Staatsbank vorsahen, jedoch ohne allzu große Wirkung. Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte, die damals bereits am Rande der Legalität agierte, wollten beobachtet haben, dass Gruppen der Sozialen Verteidigung vor allem in Thüringen konzentriert wurden. Berühmt geworden ist ein Foto, auf dem Mitglieder der GSV das Präsidium des Thüringer Landtages besetzten und eine Unterbrechung der Verhandlungen erzwangen. Brennert erklärte am nächsten Tag, er werde das Ziel des Beitrittes zur Bundesrepublik Deutschland konsequent weiter verfolgen, sich jedoch stets um einen Konsens mit allen Verantwortlichen im Lande bemühen. Im Eichsfeld kam es nun zum „Auszug der 10.000“, der als staatsfeindlicher Akt verstanden wurde. Die deutsch-deutsche Grenze wurde vorrübergehend abgeriegelt. Sie ist es noch heute. Ins Reich der Legende gehört freilich die Nachricht, auch wir hätten unsere Truppen in Thüringen konzentriert. Die DBR ist ein souveränes, neutrales Land – und nichts liegt uns ferner, als uns in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen.

Zu den turnusmäßigen Volkskammerwahlen im Jahr 1992 trat die GSV, inzwischen umbenannt in Gesellschaft für Soziale Verteidigung, mit eigenen Kandidaten an. Auch die Gruppen der mündigen Bürger (GmB) stellten sich der Wahl. Das Thüringer Neue Forum und das Neue Forum (DBR) kandidierten getrennt. Obwohl es immer wieder zu beeindruckenden Kundgebungen kam, blieb die Wahlbeteiligung dieses Mal merkwürdig gering. Zwei Drittel der Bevölkerung blieben den Wahlurnen fern. GSV und GmB gewannen mit ihrem Wahlslogan „Ordnung, Wohlstand, 3. Weg“ 42 Prozent der Sitze in der Volkskammer. Da niemand mit ihnen koalieren wollte, bildeten sie die sogenannte Minderheits-Regierung Schmidt-Schmitt, benannt nach ihren beiden Sprechern.

Zu den ersten Maßnahmen der Schmidt-Schmitt-Regierung gehörte die vorübergehende Zwangsverwaltung von Lebensmittelindustrie, Energiewirtschaft und Transportwesen, was von der Bevölkerung einhellig begrüßt wurde. Durch die Einführung von Lebensmittelmarken und Energiegutscheinen setzte tatsächlich eine gewisse Stabilisierung der Wirtschaft ein. Als die Regierung auch die Massenmedien einer Zwangsverwaltung unterstellen wollte, versagte die Opposition ihre Zustimmung. In einer Rede, die im Ausland für großes Aufsehen sorgte, warnte der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann vor dem Heraufziehen einer „Diktatur der Basisdemokratie“. Der polnische Sejm beschloss daraufhin die Aufstellung einer neuen Heimatarmee (Nowa Armia Krajowa) und berief seinen Botschafter aus Berlin (Hauptstadt der DBR) zur Berichterstattung nach Warschau ab. Wenige Tage später kam es in der Nähe von Guben zu einem Terroranschlag. „Polnische Freischärler“ so hieß es in der Presse der DBR, hätten bei Groß Breesen eine Eisenbahnlinie gesprengt. Nur durch den Einsatz spezieller Kräfte der Volkspolizei und der Gruppen der Sozialen Verteidigung sei es gelungen, die Eindringlinge über die polnische Grenze zurückzuschlagen. Die polnische Regierung wies jede Verantwortung an dem Zwischenfall zurück. Ein parlamentarischer Ausschuss der Volkskammer kam jedoch zum gegenteiligen Ergebnis. Daraufhin brachen Tschechien und Polen ihre diplomatischen Beziehungen zur DBR ab, was die Presse der DBR mit höhnischen Kommentaren quittierte. Der UN-Sicherheitsrat tagte, kam jedoch zu keinem Ergebnis, weil China jede Einigung torpedierte.

Wir erwogen zu diesem Zeitpunkt, unsere Truppen aus der DBR abzuziehen. Der Boden war uns hier zu heiß geworden. Auf Bitten der Westmächte jedoch beließen wir sie dann doch im Lande, um einen möglichen polnischen Präventivkrieg zu verhindern. Die Polen wiederum sahen darin einen aggressiven Akt gegenüber ihrem Land und gründeten gemeinsam mit den Tschechen und Ungarn den Mitteleuropäischen Schutzbund. Die Slowakei und Österreich bekundeten ihre Absicht zum Beitritt, was erhebliche Verstimmungen mit der NATO hervorrief.

Die Minderheitsregierung von GSV und GmB proklamierte nach neuerlichen deutsch-polnischen Grenzscharmützeln den „Zustand der Sozialen Verteidigung“, dementierte aber jegliche Absicht, eine Diktatur errichten zu wollen. Die Basisdemokratie sei ihr heilig. Zum Beweis ihrer guten Absichten, führte sie die Demonstrationspflicht ein. Von nun an fanden jeden Sonnabend in jedem Ort Volksaussprachen statt, an denen teilzunehmen alle Bürger vom 14. Lebensjahr an verpflichtet waren.

Einige dieser Volksaussprachen habe ich persönlich besucht, über andere wurde mir ausführlich berichtet. Und ich muss sagen, die dort geübte Basisdemokratie hat mich tief beeindruckt. Die schonungslos und auch namentlich geübte Kritik am Missbrauch demokratischer Einrichtungen führte tatsächlich dazu, dass langsam wieder geordnete Verhältnisse in der DBR Einzug erhielten. Als sich im Frühjahr 1993 abzeichnete, dass kaum noch Kritik notwendig war, nahmen die Volksaussprachen eher den Charakter von Volksfesten an. In diesem Lichte erschienen dann auch die jährlichen Wahlen zur Volkskammer überflüssig. Sie wurden zunächst um ein Jahr verschoben und dann gänzlich abgesagt.

Man kann sagen, das Leben in der DBR stabilisierte sich zunehmend. Seit dem Jahr 1995 begann auch das Bruttosozialprodukt wieder zu wachsen. Ein – wenn auch bescheidener – Wohlstand stellte sich ein. Die Schmidt-Schmitt-Regierung stellte für das Jahr 2000 erste Verhandlungen mit der Bundesregierung über eine deutsch-deutsche Wiedervereinigung in Aussicht, für das Jahr 2001 sogar neue Reiseregelungen nach Ost- und Westeuropa. Die Bundesregierung honorierte diese Ankündigung mit einem 12-Milliarden-Kredit, der mit der Wiedervereinigung obsolet würde. Inzwischen waren auch die Beitrittsverhandlungen der osteuropäischen Nationen zur NATO von Erfolg gekrönt. Der Mitteleuropäische Schutzbund blieb freilich bestehen.

Kurz vor dem Beitritt der Russischen Föderation zur NATO kam es zum Eklat. Die DBR-Regierung sah in deren NATO-Mitgliedschaft einen aggressiven Akt gegenüber der DBR und erklärte, im Fall eines Beitrittes die Truppen der Russischen Föderation als Okkupanten zu behandeln. Der Sprecher des Volkes Schmidt stellte nun die ersten schweren Einheiten der GSV auf und erklärte die Soziale Verteidigung zum obersten Recht eines jeden Bürgers. Die bewaffneten Milizen erreichten zum Jahresende eine Stärke von 2,5 Millionen Mann. Woher die schweren Waffen kamen, über die die GSV bald verfügte, ist noch heute ein Rätsel. Da die DBR zu dieser Zeit über gute Beziehungen zu China und Nordkorea verfügte, sind die Quellen wohl in diesem Raum zu suchen.

Der weitere Gang der Dinge ist für mich nicht durchschaubar, da ich als Angehöriger eines NATO-Staates unter Hausarrest gestellt worden war. Eines frühen Morgens im Oktober 1997 rollten jedenfalls Panzer durch die Allee Unter den Linden, in der sich unsere Botschaft befand. Der nur wenige hundert Meter entfernte Palast der Republik stand in Flammen. Im DBR-Radio wurde eine Meldung verlesen, dass die niederträchtigen Gruppen mündiger Bürger (GmB) zusammen mit Westberliner NATO-Truppen versucht hätten, die Basisdemokratie in der DBR zu stürzen und ein kapitalistisches System zu errichten. Dieser Versuch sei mit Hilfe der Gruppen der Sozialen Verteidigung wirksam unterbunden worden. Der angebliche Vertreter des Volkes Schmitt sei in diesem Zusammenhang schwer verwundet worden. Im Augenblick kämpften die Ärzte um sein Leben. Die West-Berliner Sender dementierten augenblicklich eine Beteiligung der NATO und zeigten Bilder von amerikanischen Soldaten, die friedlich in der Herbstsonne dösten. Daraufhin sprach das DBR-Radio nur noch von einer „stillschweigenden Duldung des Putsches durch die kapitalistische NATO“.

Es gelang der GSV relativ schnell, die Lage im Land wieder zu normalisieren. Nach Hörensagen kam es zu einigen Verhaftungen. Unter den Festgenommenen fanden sich neben den GmB-Aktivisten merkwürdigerweise auch Angehörige der Oppositionsparteien. Sie wurden allerdings bald wieder entlassen und in sogenannte „Behütete Gebiete“ eingewiesen, um sie vor dem rechtmäßigen Zorn aller aufrechten Basisdemokraten zu schützen. Das Internationale Rote Kreuz, das einige dieser Gebiete besichtigen durfte, sprach von „durchaus annehmbaren Lebensbedingungen“. Im Laufe des nächsten Jahres kam es dann zu einer großen Aufarbeitung des Putschversuches. Die meisten Putschisten wurden erschossen. Dies jedoch erst nach einer Anhörung und basisdemokratischer Abstimmung der Volksversammlungen.

Ich selbst habe seit diesen Tagen das Botschaftsgebäude nicht mehr verlassen. Selbst im Garten der Botschaft wurde bereits mehrfach auf mich geschossen. Zu meinem Schutz patrouillieren nun draußen schwerbewaffnete Truppen der GSV. Mit dem Morgengrauen werde ich die Flucht aus diesem Land versuchen. Ein unbekannter Berliner Historiker hat sich erboten, mir durch die Kanalisation einen Weg nach West-Berlin zu zeigen. Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen kann. Es ist jedoch meine letzte Chance. Armes kleines Land...

 

Christian Sachse, 26. April 2009


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