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Rätsel der Menschheitsgeschichte – Historische Analysen

„Liebe Leute, laßt euch sagen, die Uhr hat eben Elf geschlagen.“

Christian Sachse

 

„Die Uhr hat eben Elf geschlagen.“ Das ist der Kern der Botschaft. Den Randphänomenen werden wir uns später noch zuwenden. Der Satz enthält Subjekt, Objekt und Prädikat, also drei Fragen, denen wir uns stellen müssen. Sie sind so bedrängend, daß die temporale Bestimmung „eben“ zunächst in den Hintergrund treten muß. Wir werden am Schluß auf sie zurückkommen.

„Die Uhr hat Elf geschlagen.“ Das ist die Botschaft, entkleidet von allem Unwesentlichen. Unsere Fragen gelten dem Opfer, dem Vorgang und dann erst dem Täter. Warum wurde Elf geschlagen? Wer war Elf? Ein Ausländer? Ein Asylant? Dann war die Uhr eindeutig rassistisch. Oder wurde sie vielleicht von Elf angegriffen? Handelte die Uhr in Notwehr? Denkbar ist auch, daß Elf ein bedauernswertes Kind war, das von der Uhr gezüchtigt wurde. Hier wäre das Jugendamt gefragt.

Doch die Interpretation des Dokumentes erweist sich als schwieriger, als die ersten, noch naiven Fragen es erwarten lassen. Dies zeigt sich, sobald wir beginnen, das historische Umfeld zu rekonstruieren. Der Text wird einem Nachtwächter zugeschrieben. Die Botschaft enthält eine sehr allgemeine Adresse: „Liebe Leute...“ Angesprochen werden alle Bürger einer unbekannten Stadt, aber zugleich niemand persönlich. Daß die Uhr Elf geschlagen hat, wird offensichtlich niemandem persönlich vorgeworfen. Ja, die Formulierung „Liebe Leute...“ legt den Gedanken nahe, daß die Adressaten in den Vorgang nicht involviert waren. Warum müssen sie dann aber mitten in der Nacht davon erfahren? Die Antwort darauf provoziert überraschend eine neue Frage. Doch wir wollen uns zunächst der Antwort zuwenden. Die Lösung liegt in dem Wörtchen „sagen“. Der Nachtwächter sagt nämlich gar nichts. Er singt! Besser: Er trägt seine Botschaft im Singsang vor. Nun könnte man einwenden, daß sich auf das Wort „singen“ so gut wie nichts reimt, was mit Gewalt zu tun hat. Vermutlich aber war es genau umgekehrt. Der Text wurde zunächst in Prosa vorgetragen. Gesprochen waren Botschaft, Form und Inhalt ursprünglich identisch. „Liebe Leute, laßt euch sagen, die Uhr hat eben Elf geschlagen.“ Die „lieben Leute“ fanden die Botschaft offensichtlich so wichtig, daß sie sie jeden Tag von neuem hören wollten. Auf diese Weise geriet sie zum Singsang, letztlich zum Ritus, dem eine aktuelle Bedeutung nur noch sehr vermittelt zukam.

An dieser Stelle müssen wir auf das Opfer zurückkommen. Eine simple Wirtshausschlägerei zwischen Elf und Uhr wäre es nicht wert, daß man Abend für Abend an sie erinnerte. Auch die Mißhandlung eines Kindes oder Ausländers wird schwerlich als so bedeutend empfunden worden sein, als daß sie hätte Eingang ins kollektive Gedächtnis einer ganzen Stadt finden sollen. An dieser Stelle wird es nun Zeit, sich der Identität von Objekt und Subjekt dieses Dokumentes zuzuwenden. „Uhr“ und „Elf“ sind offensichtlich keine historisch realen Persönlichkeiten. Oder hat schon einmal jemand erlebt, daß eine Uhr Elf geschlagen hätte? Wir haben es also mit Symbolen oder Metaphern zu tun, die es zu entschlüsseln gilt. Uhr und Elf  hat man sich dabei als antagonistische Kräfte der Geschichte vorzustellen. Die sehr naheliegende Fehlinterpretation, die Uhr hätte einen Elf (später weiblich: die Elfe) geschlagen, kann dadurch rasch ausgeschlossen werden. Ein interessanter Hinweis erreicht uns allerdings aus der Welt der Zahlenmystik. Die Zahl Elf ist die um eine Eins verminderte Zwölf! Die Zahl Zwölf jedoch steht seit alttestamentarischer Zeit für Vollkommenheit, die zwölf Stämme Israels, die zwölf Jünger und die zwölf Gebote (von denen wir nur noch zehn kennen). Das Produkt aus der göttlichen Drei und dem Quadrat der Zwei (als doppeltem Widerspruch) ist Sinnbild für die unauflösliche Verquickung Gottes mit der irdischen Welt.  Elf ist damit sozusagen die um eine Eins verminderte Vollkommenheit. Die Eins wiederum ist selbst Symbol für die vollkommenste Vollkommenheit, für Gott selbst und das Eine Sein. Was erhält man aber, wenn man von der vollkommenen Zwölf die vollkommene Eins abzieht? Das Irdische, das Menschliche, das Vorläufige, das – auf das Vollkommene zustrebend – eben von diesem genau um das Maß des Vollkommenen entfernt bleibt. Nun erschließt sich auch die Bedeutung des Symbols „Uhr“. Die Uhr, lateinisch horologium, schlägt die unvollkommene Elf. Wir müssen uns nun auch von der Vorstellung eines schlichten Schlages trennen. Es geht um eine Schlacht, die da geschlagen wird! Zwei Zeiten kämpfen gegeneinander. Die geistige Welt, wie sie das horologium (der logos der Stunde!) repräsentiert, obsiegt nach langem Kampf. Schließlich wird die unvollkommene Elf geschlagen. Diese Schlacht tobt immer noch und ist zugleich in Christo für immer gewonnen: „...eben geschlagen!“ – und das Abend für Abend durch die gesamte menschliche Geschichte hindurch. Nur völlige Ignoranz wird hier den christlichen Mythos verleugnen, nach dem verborgen im Hier und Jetzt eine neue, vollkommene Zeit angebrochen ist, daß das Licht über die Finsternis gesiegt hat. Der besondere Feinsinn des Textes liegt nun offen zutage, der ausgerechnet einen Nachtwächter hieß, diese Botschaft gegen die Dunkelheit der Nacht anzusingen. Wir haben es also mit einem urchristlichen, sich des Heils vergewissernden Ritus zu tun, einem Abendgebet, ähnlich der Osternacht oder auch dem Weihnachtsfest. Wer sind nun die „lieben Leute“ anderes als die paulinischen „lieben Brüder“ in ihrer säkularen, im wortwörtlichen Sinne leutseligen Gestalt, mitschuldig am Tode Christi und doch in Gottes Liebe zu Brüdern, ja zu Leuten geworden? „Ihr lieben Leute“, so mag man den Text des Nachtwächters nun korrekt übersetzen,  „erinnert euch daran! Die Schlacht zwischen dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen ist geschlagen! Und zwar eben und für alle Zeit!“

...

Doch still, gerade höre ich, wie die Glocke der nahen Kirche mit ihren dreiundzwanzig Schlägen zur Nachtruhe mahnt. Lassen wir es also für heute, denn die Wissenschaft ist ein eitel Geschäft und je mehr wir zu wissen vermeinen, desto weniger wissen wir wirklich. Der Glaube ist´s allein, der wahres Wissen verheißt.

 

Berlin 2006

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